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Haldenfeuer: Ein Ruhrgebiets-Krimi

von Ralph Prüschberg

© 2025 Ralph Prüschberg Alle Rechte vorbehalten

 

Diese Geschichte, ihre Charaktere und die Ereignisse, die sie formen, sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit existierenden oder ehemals lebenden Personen, Orten oder Geschehnissen sind rein zufälliger Natur und nicht beabsichtigt.

Kein Teil dieses Textes darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

 

Prolog

1979

 

Die Oktoberluft über Katernberg hing nicht nur feucht und schwer, sie kroch in jede Ritze, legte einen zähen Schleier um die alten Häuser. Darüber der schwarze Staub der Zeche Zollverein – ein kaum noch wahrgenommener Gruß von nebenan, der alles überzog. Unter dem grauen Himmel war das rhythmische Dröhnen der Fördertürme mehr als nur ein Geräusch; es war der Puls, der das Leben hier diktierte, ein unausweichliches Gesetz.

Gerade war eine Schicht zu Ende gegangen. Vom Werkstor strömte ein Zug von Bergleuten in Richtung der Siedlung. Graue Gestalten auf dem Heimweg, die Gesichter und Kleidung schwarz vom Ruß, die Bewegungen müde und mechanisch. Sie sprachen kaum, verloren sich schnell in den Gassen zwischen den Backsteinhäusern. Der Strom verebbte, bis wieder nur die Geräusche der Anlage die Stille füllten.

Ein Junge, gerade mal Teenager, doch mit Augen, die zu alt für sein schmales Gesicht waren, lauerte am Rande des Zechengeländes. Sein Finger fuhr über einen rostigen Stahlträger, zog immer wieder komplizierte, fast hypnotische Muster in den Kohlenstaub. Das unbeschwerte Lachen der spielenden Kinder von der Straße, das im allgegenwärtigen Grollen der Zeche fast unterging, drang nicht zu ihm durch. Wollte es auch nicht.

Schon immer hatte er Dinge gesehen, die anderen verborgen blieben. Nicht nur Lärm und Dreck, das bloße Chaos der Maloche, sondern die präzise Choreografie der Förderbänder, die das schwarze Gold aus der Tiefe ans Licht trugen. Für ihn war das stählerne Fachwerk des Doppelbock-Fördergerüsts eine ganz eigene Welt. Es ragte auf wie eine gigantische Kathedrale im grauen Himmel, ließ unablässig Seile hinab- und wieder heraufziehen. Kein bloßer Förderturm, sondern ein Koloss, der die Erde ausbluten ließ.

Der schrille Pfiff einer Rangierlok schnitt durch die feuchte Luft. Er spürte die ehrfürchtige Stille der Maschine, wie Zylinder und Zahnräder in einem ihm allein verständlichen Rhythmus zueinanderfanden. Eine stille Symphonie, die nur er wahrnahm – sein Geheimnis.

An diesem Nachmittag, abseits der ausgetretenen Pfade, kämpfte er sich durch das Gestrüpp am Rand der Bahngleise. Die Loren quietschten, als sie ihre Fracht abluden. Zufällig stieß er auf einen halb verrotteten Baumstamm, der im Gebüsch lag. Er suchte nichts Bestimmtes, doch sein Blick blieb wie magisch haften. Vorsichtig begann er, das Moos von der Rinde zu kratzen. Und da waren sie. Kaum sichtbare Schnitzereien: Ein Kreis, durch den eine einzelne Linie lief. Darunter ein waagerechter Strich. In ihrer Schlichtheit lag die Harmonie, die er auch an der Architektur der Zeche so sehr bewunderte.

Die Nackenhaare sträubten sich. Seine Finger, sonst so ruhig beim Zeichnen viel komplexerer Diagramme, zitterten leicht, als er die Formen auf Papier übertrug. Die Welt war nicht so chaotisch, wie sie schien. Eine verborgene Logik. Eine Struktur. Und er, der Einzige, der sie sah, dazu bestimmt, sie zu entziffern. Eine kühle, durch und durch elektrisierende Erregung durchfuhr ihn.

Trotz seiner Jugend wusste er: Die anderen sprachen einen Kauderwelsch, der ihn wie eine Glasscheibe von ihnen trennte. „Streber”, zischten sie, wenn ihm die Antwort mühelos zuflog, die ihnen selbst entging. „Eigenbrötler”, wenn er sich in die staubigen Ecken der Schulbibliothek verkroch, anstatt dem wilden Getümmel des Pausenhofs zu folgen. Ihr Spott – immer wiederkehrende Nadelstiche – verhallte in seiner Isolation. Seine Welt verschloss sich ihren Augen; sie sahen ihn als Fehler im System.

Zu Hause war es nicht anders. Der Vater, ein Bergmann, Körper und Geist von der Schufterei unter Tage gezeichnet, kannte nur eine Sprache: die der Dominanz. Leise Fragen nach der inneren Ordnung der Dinge prallten meist an einem brüllenden „Hör auf mit diesem Unsinn!“ ab oder endeten im Kohlekeller.

Doch für kurze Momente blitzte in den Augen des Vaters auch etwas anderes auf als nur Ablehnung – Anflüge von Hilflosigkeit, vielleicht sogar Furcht vor der undurchdringlichen Fremdheit des eigenen Sohnes. Augenblicke, die so schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Seine Zahlenreihen und geometrischen Skizzen, die er in sein Notizbuch kritzelte, wurden belächelt, als „kindliche Spinnereien“ abgetan. Er wurde verhöhnt, missverstanden und stets unterschätzt.

Aber immer, wenn er sich, von allen getrennt, in sich selbst zurückzog, stand für ihn fest: Dieses System war faul. Es feierte die Lauten, die Ungenauen, die Gedankenlosen. Und es zermalmte jene, die die wahre Essenz der Dinge erkannten. Er musste ihnen ihre Irrtümer beweisen.

Dieses Zeichen würde der Anfang sein, das Fundament einer neuen Welt, in der sein Wert nicht mehr übersehen würde. Die Leere seiner Kindheit würde eines Tages gefüllt sein – nicht mit Spielzeug oder Lachen, sondern mit der unerbittlichen Logik seines Genies, einer Logik, die nicht nur Wände, sondern ganze Welten umstürzen würde.

Teil I: Das erste Symbol

Kanalflimmern

gut 45 Jahre später

Ein gleichmäßiger Nieselregen zischte kaum hörbar auf dem Asphalt, pochte gedämpft aufs Autodach. Ein einsamer Güterzug dröhnte in der Ferne und durchbrach für einen flüchtigen Moment die tiefschwarze Nacht. Hier, wo die Stadt ihre bewohnte Fläche an rostigen Zäunen verlor und in Industriebrachen überging, wo der Wind durch zerborstene Fabrikfenster pfiff, lag der alte Parkplatz am Kanalhafen Mengede.

Er blickte nach Süden. Es fehlte das Glimmen am Horizont, das vom Stahlwerk Hoesch ausging. Ein Schein, der selbst die dichteste Wolkendecke orange färbte und den Nachthimmel gespenstisch erhellte. Diesen Anblick gab es nicht mehr. Heute sah man nur die trostlose Finsternis über der Szenerie. Die wenigen Lichtpunkte am Horizont verschluckten die Dunkelheit nicht, sie ließen sie nur noch tiefer erscheinen. Winzige Funken in unendlicher Schwärze.

Hauptkommissar Frank Köhler zog den Kragen seines abgewetzten Wollmantels fester um den Hals. Sein Gesicht, gefurcht wie die Bergbaulandschaft des Reviers, trug die Spuren unzähliger Nächte ohne Schlaf. Sein Blick glitt über den Schauplatz, über die feuchten Schotterflächen und Büsche. Scheinbar unbeeindruckt vom Grauen, das die jüngeren Kollegen meist erstarren ließ. Nur ein unscheinbares Zucken seines Kiefers verriet ihn. An den Tod gewöhnte man sich nie. Man lernte nur, ihn zu verwalten, ihn in Akten zu pressen, ihn in die Statistik zu verbannen – um nicht selbst zu zerbrechen. Das war die einzige Wahrheit seiner langen Dienstjahre, eine Bürde, die er täglich trug.

Er stieg aus dem zivilen Streifenwagen. Die Scheinwerfer zerschnitten die Dunkelheit, enthüllten den Tatort schonungslos. Im Lichtkegel stand ein dunkelblauer VW Golf schräg am Rand des ausgewaschenen Schotterplatzes. Die Fahrertür hing schief in den Angeln, starrte in die Nacht. Metall auf Metall, vom Rost zerfressen. Der Regen perlte auf dem Lack, ließ ihn in vielen Farben glitzern. Blaulichter der ersten Einsatzwagen spiegelten sich in winzigen Reflexionen wider.

Kriminaloberkommissarin Meike Elif Demir, dreißig Jahre jünger, umrundete bereits das Fahrzeug. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen im Lichtkegel ihrer Maglite, der zielsicher über Lack und Reifen glitt. Ihre Bewegungen waren von Routine geprägt. Sie kniete nieder, ihr Blick folgte den Spuren im aufgeweichten Boden, ohne etwas zu berühren. Köhler beobachtete, wie ihre Präzision die erste Welle des Entsetzens zurückdrängte. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust löste, atmete zum ersten Mal seit Minuten wieder vollständig aus. Er trat einen Schritt zurück, überließ ihr die Szene.

„Sieht scheiße aus, Chef“, sagte sie. Meike presste die Lippen aufeinander. Die eiserne Beherrschung, wenn die Routine nicht mehr ausreichte.

Köhler trat neben sie, der Blick auf die Leichen gerichtet. Die Stirn zeigte mehr Falten als zuvor. „Das haben Sie bei der Sache in Kirchlinde auch gesagt“, brummte er leise, ohne sie anzusehen. „Am Ende war es Versicherungsbetrug mit sehr schlechtem Timing.“

Meike erwiderte den Blick nicht, ihre Konzentration blieb auf den Spuren am Boden. „Diesmal nicht, Chef“, sagte sie, ihre Stimme war ruhig, ohne jede Unterwürfigkeit. „Das riecht anders. Kälter.“

Köhler knurrte tief – ein Laut, der mehr widerwilligen Respekt als Resignation verriet. Einsätze, bei denen die Stille lauter schrie als jedes Opfer, verabscheute er. Diesen ganzen verdammten Zirkus, bei dem am Ende nur ein paar Reste geplatzter Träume übrig blieben.

Ein Lastwagenfahrer in verspäteter Pause hatte vorhin über Notruf „etwas Ungewöhnliches“ gemeldet: ein Auto mit offener Tür, Licht im Inneren. Der Fahrer, ein schwerfälliger Mann, dessen Kleidung nach Diesel und Zigaretten stank, war in Gedanken bereits bei der nächsten Rast. Gefangen in der Monotonie seines Alltags. Das „Ungewöhnliche“ entpuppte sich als ein junges Paar, dessen Lachen und Streit nun für immer verstummt war.

Er, kaum älter als zwanzig, hing halb aus der Fahrertür, als hätte er im letzten Moment noch fliehen wollen. Wie eine groteske Statue. Sein blondes Haar klebte ihm an der Stirn. Das Display des Autoradios warf blaues Licht auf sein wächsernes Gesicht. Ein Einschuss direkt über dem Herzen hatte sein Leben abrupt beendet. Der kleine Blutfleck auf seiner weißen Jacke wirkte fast elegant – wie so ein verdammtes Einstecktuch.

Das Mädchen auf dem Beifahrersitz war vornübergesackt, das Gesicht im Schatten verborgen, ihre Handtasche lag unberührt auf dem Schoß. Die Seitenscheibe neben ihr zierte ein sauberes Loch, umgeben von einem Netz aus Rissen, das wie ein zerbrochenes Auge in die Nacht starrte. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als hätte ein letztes Wort nie die Freiheit gefunden. Ein groteskes Arrangement.

„Keine Kampfspuren“, murmelte Meike, mehr zu sich selbst, als sie mit der Maglite in den augenscheinlich unberührten Innenraum leuchtete. „Seine Brieftasche steckt noch in der Jeanstasche, das Handy liegt auf dem Armaturenbrett. Als hätte der Tod selbst hier aufgeräumt. Seine Arbeit verdammt sauber, fast schon … zu ordentlich.“ Ihre Stimme war leise, Köhler vernahm den unverkennbaren Unterton der Beunruhigung.

Köhler grummelte und fuhr sich über das Gesicht. Kein Raub. Das verkomplizierte es, deutete auf etwas Tieferes hin. Er leuchtete mit seiner Lampe ins Wageninnere: eine aufgerissene Chipstüte, leere Coladosen, ein Kuscheltier-Anhänger am Zündschlüssel. Ein rosa Elefant. Der Anhänger. Rosa Elefant. Marion. Vor einer Ewigkeit. Sein Blick verharrte. Nein. Nicht jetzt. Er schüttelte den Kopf, die Faust in der Manteltasche presste sich zusammen.

„Was zum Teufel treiben die hier draußen um diese Zeit?“, fragte er, deutlich rauer als beabsichtigt. Mit einer ungeduldigen Bewegung zog er den Kragen seines Mantels enger.

„Ist’n üblicher Treffpunkt für junge Pärchen, Chef“, erwiderte Meike knapp. Ihr Blick schweifte über die dunklen Felder. „Abgelegen, ungestört. Normalerweise jedenfalls. Vor den neuen Siedlungen war hier nichts, Wildnis. Jetzt ist es Niemandsland. Hier kann man abends machen, was man will.“ Die Ruhe, die hier herrschte, war nicht die des Friedens, sondern die der Abwesenheit, die des Vergessens und des Verlassenwerdens.

***

Der Regen war ein sanfter Takt zu der Melodie, die aus dem Radio kam und den kleinen Innenraum mit einer weichen Melancholie füllte. Das blaue Licht des Displays spiegelte sich in Sarahs Augen.

„Endlich mal was Gutes“, murmelte sie und lehnte den Kopf an die kalte Fensterscheibe.

Kevin schnaubte leise und griff in die Chipstüte, die zwischen ihnen auf dem Handbremshebel balancierte. „Gutes? Das ist Einschlafmusik.“

„Du hast ja keine Ahnung von Musik“, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen, aber er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Ein vertrautes Necken, das wie eine warme Decke zwischen ihnen lag.

Er schob ihr eine Handvoll Chips hin. „Ich hab Ahnung davon, dass du in drei Monaten dein Abi hast. Und dann… dann sind wir hier weg.“

Jetzt drehte sie den Kopf. „Weg? Wohin denn?“

„Egal“, sagte er und grinste. „Hauptsache Sonne. Italien. Kroatien. Was du willst. Nur raus aus diesem Grau.“

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, ihre Finger verschränkten sich mit seinen. Der Geruch von Regen und feuchter Erde draußen, hier drinnen der von Paprika-Chips und ihrem Parfüm. Er strich ihr über das Haar, das sich unter seiner Hand seidig anfühlte und atmete den Moment ein. Hier, in dieser kleinen Blase aus Blech und Wärme, war die Welt in Ordnung.

***

Die Spurensicherung, ein Team routinierter Spezialisten, war bereits im Anmarsch. Köhler kannte das Prozedere: Identifizierung der Opfer, die Benachrichtigung der Angehörigen – eine Aufgabe, die er auch nach all den Dienstjahren noch verabscheute, die ihm oft mehr abverlangte als jeder Tatort –, die Suche nach Zeugen, die es in dieser gottverlassenen Gegend sowieso nicht gab. Die zermürbende Bürokratie des Todes beraubte jedes Opfer seiner Menschlichkeit, reduzierte es auf ein Aktenzeichen.

„Kleinkaliber“, stellte Köhler fest, mehr zu sich selbst, während er die Einschusslöcher betrachtete. „Einmal er, einmal sie. Präzise.“ Meikes Worte hallten in ihm nach. Zu ordentlich. Nichts passte hier zu den üblichen Szenarien – kein Raub, keine Wut, kein Chaos. Diese Tat war gezielt, geradezu klinisch. Eine emotionslose Ausführung, die ihn zutiefst störte, eine beinahe arrogante Zurschaustellung von Kontrolle. Als hätte jemand nicht nur Leben genommen, sondern bewusst eine Leere hinterlassen – ein Rätsel, eine stumme Verhöhnung.

Der Regen wurde stärker, trommelte ein melancholisches Requiem auf das Golfdach. Die Blaulichter der nächsten eintreffenden Kollegen warfen flackernde Reflexe auf die Kanaloberfläche. Aus weiter Ferne drang das Rauschen der Autobahn herüber, ein Puls der normalen Welt, der diesen Ort nur noch unnatürlicher erscheinen ließ.

„Wir sollten die Umgebung weiträumig absperren lassen“, ordnete Köhler an. Seine Stimme schnitt durch die nasse Luft. „Jeden Quadratzentimeter absuchen. Vielleicht finden wir Hülsen oder Fußspuren, bevor der verdammte Regen alles wegspült. Ich will, dass jeder Stein zweimal umgedreht wird.“ Sein Blick ging in Richtung des Golfs.

Während Meike Demir die Anweisungen über Funk weitergab, musterte Köhler noch einmal die beiden toten Körper. Das war nicht einfach nur ein weiterer tragischer Fall, der bald in den Akten verstauben würde. Jemand hatte diese Tat geplant, ein Zeichen setzen wollen – doch aus welchem Grund und für wen?

***

Später, im Neonlicht des Dortmunder Polizeipräsidiums, zermürbte die Routinearbeit, ohne neue Erkenntnisse zu liefern. Die Opfer, Kevin Schmelzer (21, Auszubildender zum Kfz-Mechatroniker) und Sarah Hoxha (19, Schülerin kurz vor dem Abitur), waren ein unauffälliges Paar ohne bekannte Feinde. Ihr Umfeld zeigte sich fassungslos und konnte sich nicht vorstellen, wer ihnen so etwas antun könnte. Die Fotos auf dem Ermittlungstisch zeigten Gesichter voller Leben: Kevin, der in die Kamera grinste; Sarah, die lachend den Kopf an seine Schulter lehnte. Es war diese schmerzhafte Normalität, diese Banalität ihres Glücks inmitten von Chipstüten und Coladosen, die das plötzliche Ende so unbegreiflich machte.

Meike kam mit zwei dampfenden Kaffeebechern aus der kleinen Teeküche zurück. Sie stellte einen auf Köhlers unordentlichen Schreibtisch und den anderen auf ihren eigenen – eine makellos aufgeräumte Fläche, auf der jeder Stift und jeder Aktenstapel einem unsichtbaren Raster zu folgen schien.

„Das ganze Umfeld haben wir durch“, sagte sie, die Ringe unter ihren Augen sprachen Bände. „Nichts. Keine Feinde, keine Schulden… Die waren einfach nur…“ – sie machte eine kurze Pause, ihr Blick verlor sich für einen Moment – „…verliebt. Einfach nur ein ganz normales Paar.“

Köhler hörte zu, nahm einen Schluck und stellte seinen Becher dann gedankenverloren direkt neben sie auf ihren Schreibtisch – ohne Untersetzer, einen feuchten Ring auf der Oberfläche hinterlassend.

Meike redete weiter, ihre Stimme blieb vollkommen ruhig, ihr Blick wich nicht von seinem Gesicht. Doch Köhler, der sie seit Jahren kannte, bemerkte es: ein winziges Flimmern ihres Augenlids. Ihre Finger, die eben noch entspannt auf der Tischplatte gelegen hatten, krümmten sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie sich bewusst wieder glätteten.

Sie ignorierte den Kaffeering, als wäre er nicht da. Aber der Kampf, den sie führte, um ihn zu ignorieren, war für Köhler in diesem winzigen Moment lauter als jedes gesprochene Wort.

Köhler rieb sich die brennenden Augen – zu wenig Schlaf. Er kippte den abgestandenen Kaffee hinunter. Ein saurer Film legte sich auf seine Zunge. War das der Geschmack dieses verdammten Tages?

Sein Blick fiel auf Meikes dunklen Wollmantel, der über der Stuhllehne hing. Er beugte sich vor, zupfte ein helles Haar vom Stoff und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht.

„Neuer Mitbewohner, Demir?“, fragte er leise, ein Anflug von fast väterlichem Spott lag in seiner Stimme.

Meike folgte seinem Blick. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihre Lippen, bevor sie es wieder einfing und ihre professionelle Miene aufsetzte. „Ein Findelkind, Chef“, sagte sie, während sie sich einen Kaffee einschenkte. „Ein komplizierter Fall mit vier Pfoten und zu viel Angst vor der Welt.“

Köhler ließ das Haar fallen und nickte. Er kannte diesen Tonfall. Es war der Ton, den sie annahm, wenn sie eine Mauer um etwas baute, das ihr wichtig war.

In diesem Moment der Ruhe schrillte plötzlich der Klingelton von Meikes Handy – eine orientalisch anmutende Melodie, die in der Stille des Nachtbüros vollkommen deplatziert wirkte. Meike zuckte zusammen, fischte das Gerät aus ihrer Tasche und sah mit einem gequälten Ausdruck auf das Display.

Sie drückte den Anruf weg. „Sorry, Chef. Meine…“

Das Handy vibrierte sofort erneut. Köhler hob nur eine Augenbraue. „Gehen Sie schon ran, Demir. Klingt, als sei es wichtiger als unser ungelöster Doppelmord.“

Sie warf ihm einen tödlichen Blick zu, stand auf und ging ans Fenster. Mit dem Rücken zu ihm nahm sie den Anruf an und sprach mit gedämpfter Stimme ins Telefon, erst auf Deutsch, dann in fließendem, aber leise geflüstertem Türkisch.

„Anneanne, şimdi olmaz… Ich arbeite… Ja, ich weiß… Nein, ich habe keinen Mann kennengelernt… Ja, ich esse genug… Tamam, tschüss.“

Sie legte auf und steckte das Handy langsam in ihre Tasche, als wäre es ein Beweisstück. Als sie sich umdrehte, war ihre professionelle Miene wieder an Ort und Stelle, nur eine leichte Röte auf ihren Wangen blieb zurück.

Köhler sagte nichts, nippte nur an seinem Kaffee. Er hatte nicht alles verstanden, aber genug, um die universelle Sprache besorgter Großmütter zu erkennen. Der kurze Einbruch der normalen Welt in ihren von Tod und Akten geprägten Alltag hing für einen Moment zwischen ihnen in der Luft.

„Motiv ist weiterhin völlig unklar“, sagte Meike schließlich und setzte sich wieder, ihre Stimme nun wieder ganz die der sachlichen Ermittlerin. „Tatwaffe nicht gefunden. Keine Zeugen, außer dem LKW-Fahrer, der den Wagen mit den offenen Türen sah, aber nicht nachgesehen hat. Immerhin hat er angerufen.“ „Wir drehen uns im Kreis.”, murmelte Köhler.  „Das ist wie Fischen im Kanal – am Ende hast du nur alte Reifen und dreckige Hände. Reine Zeitverschwendung.”

„Die KTU hat Reifenspuren eines zweiten Fahrzeugs auf dem Zufahrtsweg zum Parkplatz gefunden“, berichtete Meike, während sie sich auf den Stuhl gegenüber setzte, dessen Federkern leise seufzte. „Aber der Boden war zu aufgeweicht, der Regen hat sein Übriges getan. Die Spuren sind undeutlich. Könnte alles Mögliche gewesen sein, von einem anderen Pärchen bis zu Anglern oder Spaziergängern. Kaum verwertbar, leider.“ Sie massierte sich die Schläfen.

„Wir gehen trotzdem jeder Spur nach, so dünn sie auch sein mag“, sagte Köhler. In seinen Augen lag etwas, das über bloße Erschöpfung hinausging. Die Präzision der Tat, das Fehlen jeglicher Unordnung – es passte zu keinem der üblichen Muster, mit denen sie es hier im Pott zu tun hatten. Dies war keine Tat aus dem Affekt, sondern die Inszenierung eines Täters, der nicht nur tötete, sondern den Ermittlern damit ein Rätsel vorzusetzen schien. Ein verstecktes Grinsen in der Stille des Tatorts.

Sein Blick fiel noch einmal auf das spärlich beschriebene Whiteboard an der Wand. Die Buchstaben von Sarah Hoxha schienen vor seinen übermüdeten Augen zu verschwimmen.

Da war er wieder, der Geruch von nassem Laub und Verwesung. Sein erster Mordfall als blutjunger Polizeianwärter. Er sah die Bilder wieder glasklar vor sich: die schlimm zugerichtete Leiche im Wald, das Gesicht kaum noch zu erkennen. Damals hatte ihn der Anblick dieses jungen, toten Dings bis ins Mark erschüttert. Ein Schock, den man nie wieder ganz aus dem Kopf bekam. Solche Fälle brachten unweigerlich alles wieder an die Oberfläche. Es gab einfach kein Entrinnen. Hauser hieß sie, ähnelt Hoxha etwas. Köhler schüttelte sich, als wollte er die Geister und den fauligen Geruch vertreiben. Wieder zurück zu den Fakten, das hier war schlimm genug. Da braucht man nicht noch Streiche seines erschöpften Gehirns.

***

Stunden später schloss Meike Demir die Tür ihrer Wohnung und ließ die Nacht und den Geruch des Präsidiums hinter sich. Doch die Bilder vom Tatort, das wächserne Gesicht des jungen Mannes im Licht des Radios, ließen sich nicht so einfach abstreifen.

Ein leises Trippeln auf dem Holzboden durchbrach die Stille. Bulut. Der kleine, helle Hund blieb im Flur stehen, sein Schwanz wedelte langsam – ein fragiles Willkommen, überschattet von der Furcht, die ihm anhaftete wie ein zweites Fell. Meike legte den Panzer der Ermittlerin ab und sank vor ihm auf die Knie. Ohne ein Wort zu sagen, vergrub sie ihr Gesicht in seinem weichen Fell. Der vertraute Geruch, die zitternde Wärme seines Körpers – ein Halt gegen das Chaos in ihrem Kopf. Hier, in der Wärme dieses geretteten Lebens, fand sie für einen Augenblick die Kraft, die Bilder der ausgelöschten Leben am Kanal zu ertragen. Für einen winzigen Moment hielt die Welt den Atem an und sie war einfach nur Meike.

Die Signatur

Am nächsten Morgen zerbrach die erdrückende Stille im Präsidium. Zielloses Treiben begann: Telefone schellten, Tastaturen hämmerten. Gemurmel stieg auf – Fetzen sinnloser Gespräche, die zu einem Raunen allgemeiner Ratlosigkeit verschwammen. Das Ganze legte sich wie eine drückende Schwüle über die Gänge, kroch unter die Haut, zerrte an den Nerven der Ermittler. Doch auch dieser Lärm, diese geschäftige Fassade, konnte die Leere im Kern der Ermittlung nicht übertönen.

Frank Köhler saß im Besprechungsraum, abgeschirmt vom tobenden Chaos, starrte auf das Whiteboard. Es leuchtete ihn mit derselben provozierenden Leere an wie in der Nacht zuvor. Kevin Schmelzer, Sarah Hoxha. Zwei Namen, mit schwarzem Marker geschrieben, wie Grabinschriften. Zwei ausgelöschte Leben, zu Buchstaben reduziert. Dazwischen ein Loch. Die üblichen Ermittlungsschritte – Befragungen, Spurenauswertungen, forensische Analysen – führten bisher ins Leere. Alle Anstrengungen prallten an der Perfektion des Verbrechens wirkungslos ab.

„Chef?“

Meike Demir stand in der Tür. Köhler sah die Veränderung sofort. Die professionelle Miene war weg, zurück blieb ein fast ausdrucksloses Gesicht. Darin eine verräterische Linie zwischen ihren Brauen und dieses kaum wahrnehmbare Zittern ihrer Mundwinkel. Köhler musste schlucken. Das war das Zeichen. Das für die wirklich schlimmen Fälle.

„Die Spurensicherung hat angerufen. Sie haben etwas.“ Der Klang ihrer Worte verriet eine Ahnung.

Köhler richtete sich auf, ein alter Bär, der aus dem Schlaf gerissen wird. Jede Faser seines Körpers schmerzte, die Gelenke knirschten, protestierten gegen den Schlafmangel. „Und was?“, fragte er, noch belegt von der langen Nacht und dem bitteren Kaffee.

Meike zögerte einen Moment, wog ihre Worte ab. „Einen Zettel.“ Sie trat ein, schloss schnell die Tür hinter sich. Die Geräuschkulisse des Flurs verstummte abrupt, als hätte jemand den Stecker gezogen. Eine beklemmende Ruhe füllte den fensterlosen Raum. „Am Kanalufer. Etwa fünfzig Meter vom Tatort entfernt, im Gebüsch. Nicht sofort sichtbar, aber gezielt platziert, damit die Spurensicherung ihn fand. In Plastik eingeschweißt. Der Regen hat ihm nichts anhaben können. Er ist makellos. Fast, als hätte ihn eben erst jemand fallen lassen.“

Köhlers Muskeln spannten sich, eine Regung von Hoffnung nach Stunden Erfolglosigkeit. Ein schwaches Ziehen in der Brust – er hatte es seit dem Leichenfund nicht mehr gespürt. Ein Funke glühte auf, durchbrach für einen Moment die Schwärze. „Was steht drauf?“, presste er hervor.

Meike hielt Köhlers Blick für einen Moment stand, dann senkte sie ihn auf den Asservatenbeutel in ihrer Hand. „Kein Text. Nur ein Symbol.“ Ein Symbol. Die Ahnung, dass dies mehr als ein einfacher Mord war, verdichtete sich.

Köhlers Brauen zogen sich zusammen. Das war neu. Anders. Er trat näher heran, schneller, fast ungeduldig, getrieben von Neugier. „Ein Symbol? Zeigen Sie mal.“

Wenig später lag der Asservatenbeutel auf dem Metalltisch vor ihm. Das Licht der Raumlampe spiegelte sich im Plastik wider, zeigte die beunruhigende Klarheit des Inhalts. Ein weißes Kärtchen, kaum größer als eine Visitenkarte. Mit pechschwarzer Tinte war darauf ein Symbol gezeichnet: Ein perfekter Kreis mit einem einzelnen, senkrechten Strich. Darunter ein kurzer, waagerechter Strich, der den Kreis nicht berührte. Die Linien waren so, dass sie fast maschinell wirkten. Ihre Sauberkeit wirkte provokativ, ein Hohn auf die Brutalität der Tat.

„Was zum Teufel soll das?“, murmelte Köhler und drehte den Asservatenbeutel in den Händen. Er fühlte sich an, als hielte er eine giftige Spinne. Kein Logo, kein Szene-Kram, kein okkulter Mist. Nichts. Nur dieses arrogante Gekritzel. Ein Unbehagen kroch ihm den Arm hoch, das er sonst nur von Tatorten kannte. Das hier war anders, wirkte berechnet, fast mathematisch steril.

„Die Kollegen von der KTU haben keine Fingerabdrücke auf der Folie oder dem Kärtchen gefunden. Alles ist professionell sauber“, sagte Meike. Sie legte eine winzige Pause ein, ihr Blick huschte über Köhlers Gesicht, bevor sie tief Luft holte. „Der Zettel lag so, dass er gefunden werden sollte, aber nicht direkt am Tatort. Ganz bewusst platziert, wie inszeniert.”

Köhler starrte auf das Symbol. Es war geometrisch, eigentlich ohne jede Emotion. Und doch hatte es eine beunruhigende Aura. Es fühlte sich an wie eine Signatur – die Unterschrift eines Täters, der nicht nur tötete, sondern offenbar auch spielte. Ein Spiel, dessen Regeln sie noch nicht kannten, ein Rätsel, das sie zu entschlüsseln hatten. Die frische Fährte weckte Köhlers müde Sinne. Die Jagd hatte begonnen, die Jagd nach einem überaus cleveren Spieler.

„Lassen Sie das Symbol durch alle Datenbanken laufen“, ordnete Köhler an, die Müdigkeit war für einen Moment verdrängt. „Vergleichen Sie es mit bekannten Täterzeichen, offiziell erfassten Serienmustern, Graffiti-Tags, okkulten Symbolen – alles, was in unseren Systemen hinterlegt ist. Fragen Sie bei den Kollegen vom LKA nach, ob denen so etwas schon einmal untergekommen ist, auch wenn es nicht offiziell erfasst wurde. Wir brauchen jeden Hinweis, egal wie klein. Jedes Fragment der Wahrheit.“

Meike verließ den stickigen Besprechungsraum und nahm die Treppe ins Kellergeschoss. Hier unten roch es anders – nicht nach Kaffee und Stress, sondern nach trockener Luft, Ozon und dem stetigen Surren von Serverlüftern. Das Reich der IT-Forensik war eine andere Welt.

Sie fand Benno Kowalski in einem abgedunkelten Raum, nur beleuchtet vom Flimmern von vier Monitoren. Ein blasser, junger Mann mit dunklen Ringen unter den Augen, der über seiner Tastatur kauerte wie ein Organist über der Orgel. Ein Stapel leerer Kaffeebecher bildete einen wackeligen Turm neben ihm.

„Benno, ich brauche deine Magie“, sagte Meike ohne Umschweife und legte den Asservatenbeutel mit dem Symbol auf seinen Schreibtisch.

Kowalski blickte auf, blinzelte, als müssten sich seine Augen erst an eine menschliche Interaktion gewöhnen. „Magie? Meike, ich arbeite hier mit einer Frankenstein-Architektur aus moderner Software und einem Archiv-Modul aus der Steinzeit. Das ist eher Exorzismus.“ Er nahm den Beutel, seine Augen verengten sich. „Schick. Was soll ich damit?“

„Alles“, erwiderte Meike und zählte auf: „Bekannte Täterzeichen, okkulte Symbole, Graffiti-Datenbank, Muster aus ungelösten Fällen. Alles, was auch nur im Entferntesten so aussieht. Köhler will das volle Programm.“

Kowalski seufzte und fuhr sich durch die Haare. „Das volle Programm läuft über das alte AMK – das Archiv-Modul. Und jedes Mal, wenn wir eine komplexe Abfrage an diesen Dinosaurier schicken, riskiere ich, dass das ganze System für eine Stunde Kaffee trinken geht. Aber gut.“

Er scannte das Symbol ein und startete die Suchläufe. Auf einem der Monitore erschien ein Ladebalken, der sich quälend langsam füllte. Er fror ein, zuckte, kroch ein paar Millimeter weiter.

„Siehst du?“, murmelte Kowalski und tippte ungeduldig auf seine Tastatur. „Diese alte Mühle kommuniziert mit dem neuen System wie zwei schlecht gelaunte Rentner per Flaschenpost.“

Meike lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme. Die Hoffnung, dass eine Maschine die Antwort ausspucken würde, war gering, doch es war ihr einziger greifbarer Ansatzpunkt.

Nach quälenden Minuten schüttelte Kowalski den Kopf. Die Bildschirme zeigten in nüchternen Buchstaben, was sie bereits befürchtet hatte: KEINE ÜBEREINSTIMMUNG GEFUNDEN.

„Nichts“, sagte er. „Absolut nichts. In keiner einzigen Datenbank, weder hier noch im LKA-Abgleich. Dieses Zeichen existiert für uns nicht. Als hätte es jemand am Reißbrett entworfen und heute Morgen zum ersten Mal benutzt.“

Meike nickte. Die Enttäuschung war da, aber auch eine beunruhigende Erkenntnis. Eine Antwort gab es nicht, sondern ein Rätsel, das tief in die Dunkelheit lockte. „Danke trotzdem, Benno.“

Als sie ging, hörte sie ihn schon wieder murmeln: „Frankenstein… ich sag’s ja… irgendwann frisst das Monster seinen Schöpfer…“

Das Kanalflimmern hatte eine tiefere Bedeutung bekommen. Es war, als hätte die Nacht selbst ein Geheimnis geflüstert, das nun zu ihnen sprach.

Die Frustration im Dortmunder Präsidium schwoll zu einer fast greifbaren Wut an. Jeder Versuch, das Symbol zu identifizieren, lief ins Leere. Köhler wusste: Die Antwort lag nicht in ihren Computern. Sie lauerte im Verstand eines Täters, dessen Spiel gerade erst begonnen hatte und der sie verspottete. Von ihm würde der nächste Hinweis kommen.

Nur wie und wann?

***

Während die Ermittler mit dem Rätsel und den Datenbanken rangen, saß Ben Brenner nur wenige Kilometer entfernt in der kleinen Redaktion des „Dortmunder Stadt-Anzeigers“. Der hektische Puls des Nachrichtengeschäfts war das Chaos, in dem er sich zu Hause fühlte. Der junge Lokalreporter beugte sich über seinen Bildschirm, auf dem eine unscharfe Handyaufnahme desselben Symbols zu sehen war, zugespielt von seiner gewohnt zuverlässigen, anonymen Quelle bei der Polizei. Der Fall hatte ihn elektrisiert. Das war nicht nur ein Mord. Das war eine Geschichte. Eine, die schrie: Entschlüssle mich! Und er würde der Erste sein. Der Erste! Sein Name, endlich nicht mehr nur Lokalzeitung.

Ben spürte Gabis Blick auf seinem Nacken, hörte das Schmatzen der Gummibärchen direkt hinter ihm. Sie lehnte an seinem Schreibtisch und schielte ihm skeptisch über die Schulter. Das Rascheln und das dumpfe Klackern von Gabis Fingern auf ihrer Tastatur waren die einzigen Geräusche in Bens konzentrierter Blase, die ihn von der Welt abschirmte.

„Hemingway, hör auf, Geister zu jagen. Rabe hat nichts von einem Symbol gesagt.”, sagte sie kauend und deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des gläsernen Büros des Chefredakteurs, aus dem gedämpftes Murren drang. „Am Ende schreibst du dir die Finger wund für eine Ente und ich muss dich mit Gummibärchen trösten. Und die sind teuer.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Wenn du etwas bringen willst, das uns nicht den Kopf kostet, brauchst du Fakten, keine verschwommenen Testbilder von deinem Polizeichat. Du verbrennst dir noch die Finger, Ben.“ Gabi war die Pragmatikerin, ein Anker der Vernunft in Bens aufkeimendem Wahn, die ihn zurück auf den Boden der Tatsachen ziehen wollte.

Ihr Blick wurde für einen Moment ernst, das Kauen stoppte. „Hör zu“, sagte sie leiser, fast ohne die übliche Ironie. „Ich hab schon Reporter gesehen, die sich für ’ne Story verrannt haben. Die am Ende mehr verloren haben als nur ihren Job. Pass einfach auf dich auf, okay? Nicht nur auf deine Quellen.“ Sie griff wieder in ihre Gummibärchentüte, als wollte sie diese ungewohnte Ernsthaftigkeit sofort wieder mit Zucker überdecken.

Ben starrte noch lange auf die Tür, durch die Gabi verschwunden war. Ihr Parfüm, eine Mischung aus Zitrus und dem Duft von Gummibärchen, hing noch in der Luft. Er seufzte, rieb sich die Augen und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Das Symbol starrte ihn an wie ein unlesbares Omen.

Mechanisch griff er nach seiner an den Kanten abgewetzten Brieftasche. Er zog ein gefaltetes Foto heraus. Es zeigte einen Jungen von vielleicht zehn Jahren, der stolz neben einem Mann mit zerzaustem Haar und einem Drei-Tage-Bart stand. Der Mann trug einen Trenchcoat und um seinen Hals hing ein Presseausweis. Bens Vater. Das Bild war an der Küste bei Hamburg aufgenommen worden, kurz bevor sein Vater für eine dieser großen Reportagen nach Südamerika geflogen war.

Sein Vater, der Held. Der Mann, der für eine gute Geschichte alles riskiert hatte und dessen Name in den großen Redaktionen des Landes immer noch mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Kopfschütteln genannt wurde. „Trau deinem Instinkt, Junge“, hatte er immer gesagt, „aber sei verdammt nochmal besser als die anderen.“ Sein Vater war besser, aber er scheute sich auch nicht, für die Story seine Seele zu opfern.

Ben schloss die Augen. Er spürte immer noch diesen unbändigen Druck, aus dem langen Schatten dieses Mannes herauszutreten. Diese Story, das war nicht nur eine Story. Es war seine Chance. Die Chance, endlich zu beweisen, dass er mehr war als nur der Sohn einer Legende. Er schob das Foto zurück in die Brieftasche und seine Finger flogen über die Tastatur, eine manische Jagd durch ein Labyrinth aus Krypto-Foren und obskuren Kunstblogs, die stundenlang nur in Sackgassen endete. Dann, spät in der Nacht, als die Redaktion längst still war, brachte ihn ein fast zufälliger Treffer auf den Blog eines emeritierten Berliner Kriminologieprofessors, Dr. Reinhard Althaus. Nach Stunden vergeblicher Suchen war es ein Schuss ins Dunkel. Dutzende Tabs, dutzende Nieten. Verschwörungstheoretiker, Hobby-Satanisten – alles nur digitales Rauschen. Er wollte den Laptop schon zuklappen, als sein Blick auf dem unscheinbaren Link hängenblieb. Ein Blog. Wahrscheinlich wieder nichts, dachte er erst. Er klickte trotzdem. Der Artikel trug den Titel: „Signaturen des Bösen: Wenn Täter Zeichen setzen.“ In Althaus‘ Text las Ben nicht nur über narzisstische Visitenkarten. Der Professor beschrieb Symbole als Waffen in einer psychologischen Kriegsführung, als eine offene Provokation des Täters an seine Verfolger. Ein Satz fesselte Ben besonders: „Ein Beispiel war die Vorgehensweise im ungelösten Fall des sogenannten ‚Schattenmörders‘ von Freiburg vor zehn Jahren, der seine Opfer an Orten zurückließ, die eine geometrische Form auf der Landkarte bildeten.“ Es war nicht der erste Treffer auf das Wort Schattenmörder. Ben hatte zuvor Dutzende solcher Einträge gefunden und verworfen – Spekulationen in obskuren Foren, die sich gegenseitig mit wilden Theorien überboten. Doch Althaus‘ Text war anders. Er war nüchtern, akademisch, geradezu eine wissenschaftliche Abhandlung. Jeder Satz eine präzise Analyse, keine Vermutung. Hier sprach kein selbsternannter Experte, sondern ein Forscher. Das war es, was Ben spürte: die Autorität von Fakten.

Der Schattenmörder von Freiburg. Ben hielt inne. Seine Finger erstarrten über der Tastatur. Der Name sagte ihm vage etwas. War da nicht auch ein ungelöster „Cold Case“ aus irgendeiner True-Crime-Dokumentation? Die Erwähnung einer geometrischen Anordnung ließ seine Alarmglocken schrillen. Das war mehr als nur ein Gedanke. Es war ein konkreter Anhaltspunkt, ein roter Faden, der sich durch die Geschichte zog. Die Müdigkeit hatte er verdrängt, seine Sinne waren hellwach. Gabis Gummibärchen lagen vergessen neben der Tastatur, die Cola wurde warm. Er begann nach Informationen zu dieser alten Mordserie zu suchen. Nach den Opfern, den Orten. Nach dem kleinsten Detail, das eine Verbindung herstellen konnte. Es war keine vage Erinnerung mehr, es war der Anfang einer Recherche, die sein Leben verändern sollte. Er spürte, dass er etwas Großem auf der Spur war, etwas, das weit über einen lokalen Kriminalfall hinausging.

Aus den Umrissen der Vergangenheit kroch das Grauen, bereit, in der Gegenwart zuzuschlagen. Es war mehr als Neugier. Er klickte weiter, Link für Link, tiefer in das Labyrinth hinein. Es war kein Recherchieren mehr; es war bereits ein Rausch, der ihn nicht mehr losließ.

Die Handschrift des Schattens

Zwei quälende Wochen waren seit dem Doppelmord am Kanalhafen Mengede vergangen. Die Ermittlungen der Dortmunder Polizei kamen kaum einen Schritt voran. Ratlosigkeit breitete sich im Präsidium aus, untergrub die Entschlossenheit der Ermittler, hinterließ Resignation. Das mysteriöse Symbol, dessen Perfektion so unaufdringlich und doch so verstörend war, blieb ein Rätsel. Ein Spott, der in den Akten lauerte und die Ermittler verhöhnte. Die Gier der ersten Schlagzeilen war längst müder Routine gewichen. Der Fall drohte langsam in den Hintergrund zu geraten, zu einem „Cold Case“ zu werden, einer stillen Wunde in der Chronik der Stadt, die nie heilen würde.

Frank Köhler spürte den Frust seines Teams und die Erwartung der Vorgesetzten wie ein Joch, das ihn zu Boden drückte. Kriminaldirektor Rabe, ein Mann der schnellen Erfolge und sauberen Statistiken, hatte bereits mehrfach nachgehakt. In jedem Telefonat wurde seine Stimme lauter und ungeduldiger, schlug inzwischen wie eine Peitsche auf Köhler ein.

An diesem Novembermorgen, der das gesamte Ruhrgebiet wieder mal in ein nasskaltes Grau tauchte, war die Stimmung in der Lagebesprechung auf dem Tiefpunkt angelangt. Die Gesichter der Kollegen waren müde, die Augen trüb, die Schultern gesenkt. „Wir können die Akte gleich zu den ungelösten legen und uns den Papierkram sparen“, murrte einer der jüngeren Kommissare, dessen Idealismus die Realität längst zerrieben hatte, in seinen Kaffeebecher. Keiner widersprach. Draußen schluckte Nebel die Stadt, drinnen fraß die Stille die Antworten.

Köhlers Blick haftete auf der Beweistafel. Die Nächte waren kurz, der Schlaf geplagt von Bildfragmenten der beiden toten Jugendlichen und dem geometrischen Symbol. Gerade als Köhler mit einer endgültigen Geste die Akte zuschlug, klingelte ein Telefon im Besprechungsraum – die Leitung der Einsatzzentrale. Ein Kribbeln im Nacken, das ihn noch nie getrogen hatte, ließ Köhler zum Hörer greifen. „Köhler.“

Der diensthabende Beamte am anderen Ende klang aufgeregt, aber noch professionell. Köhler hörte das Vibrieren in seiner Stimme, ahnte, wie sich der Angstschweiß auf dessen Stirn bildete. „Chef, wir haben gerade eine Meldung aus dem Klinikum West reinbekommen. Es gab einen Überfall im Rombergpark. Zwei Opfer, einer schwer verletzt, eine junge Frau tot. Die Notärztin hats gemeldet.“ Die abgespulte Notruf-Routine war ein Schutzschild gegen die Panik, die er spürte.

Die Müdigkeit löste sich auf. Nur noch die Klarheit des Augenblicks zählte. Der Rombergpark, die grüne Lunge im Süden Dortmunds, ein Ausflugsziel für Familien, ein Ort für Sonntagsspaziergänge und romantische Treffen – das war kein Platz für Verbrechen dieser Art. Das passte nicht zum Bild vom Kanalhafen, zur Einsamkeit des ersten Tatorts. „Ein Raubüberfall?“, fragte er, obwohl seine innere Stimme ihm bereits sagte, dass es schlimmer sein würde. Viel schlimmer.

„Nicht wirklich, Chef“, sagte der Beamte zögernd. Er wurde leiser, fast flüsternd. „Der Verletzte hat von einem einzelnen Angreifer gesprochen. Und er hat etwas erwähnt… ein Zeichen, das der Täter hinterlassen haben soll. Ein Symbol.“ Das war es. Wieder ein Zeichen. Das ist seine Signatur.

Ende der Leseprobe

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